48. KW 2018
Der Wendt dieser Woche geht an die Tradition. Sie steht für Bewährtes, Gewohntes, für gut Befundenes. Gelegentlich kann sie etwas Wunderbares sein. Bei meiner Frau und mir ist es Brauch, dass wir uns abwechselnd zum Hochzeitstag gegenseitig einladen, zu einer Stadtbesichtigung, einem Konzert oder einer Theateraufführung. Traditionell ...
... verrät der Einladende vorher kein Sterbenswort über Art und Ort. Schließlich soll es eine Überraschung sein. Leider war es nicht zu vermeiden, dass das eine oder andere voll in die Hose ging. Theaterstücke können miserabel und Konzerte grottenschlecht sein. Meistens haben wir aber großartige Abende dabei erlebt. So ähnlich ist es auch mit Tradition und Brauchtum bei Gericht:
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie Gerichtsverhandlungen ablaufen. Ich habe in 30 Jahren Anwaltstätigkeit an wohl mehr als 4.000 Gerichtsverhandlungen teilgenommen. Geschätzte 90 % waren dabei mietrechtliche Prozesse, in denen ich Vermieter gegen ihre Mieter vertreten habe. In solchen Verfahren werden Protokolle geführt. Ausnahmslos. Die Protokollführung obliegt dem Richter. Er bestimmt den Inhalt des Protokolls. Parteien und Anwälte dürfen Ergänzungen oder Korrekturen beantragen. Über den Antrag entscheidet der Richter. Die Protokolle werden Parteien und Anwälten zur Verfügung gestellt. Jeder Prozessbeteiligte kann noch nach Jahren nachlesen, was Parteien erklärt, Anwälte beantragt und Zeugen ausgesagt haben.
Nicht so in Strafprozessen. Protokolle sieht unsere Strafprozessordnung nicht vor. Warum? Keine Ahnung. Vermutlich, weil es Tradition ist. Schwaches Argument? Finde ich auch. Vielleicht liegt es daran, dass Strafrichter, Staatsanwälte und Strafverteidiger im Gegensatz zu Zivilrichtern und mir ein paar Millionen brach liegende Reserveneuronen ihr Eigen nennen. Deren einzige Aufgabe ist es, gesprochene Worte, gerötete Wangen und ausgedünstete Schweißperlen auf der Stirn von Zeugen minutiös zu speichern. Und jederzeit abrufbar im Gehirn bereit zu halten. Blöd gelaufen bei mir, über ein derartiges Reservoir an Neuronen verfüge ich leider nicht. Mein Gehirn ist, wie ich eingestehen muss, in der Regel ausgelastet.
Natürlich steht es in einem Strafprozess jedem der Prozessbeteiligten frei, das Gesagte mitzuschreiben. Wohl dem, der Steno kann. Oder es ausschließlich mit langsam sprechenden Zeugen zu tun hat. Schreiben alle mit, also Richter, Staatsanwalt und Verteidiger, gibt es gar drei Mitschriften. Es ist illusorisch, zu glauben, diese seien identisch. Versuchen Sie doch mal, dem Nachrichtensprecher im Fernsehen zuzusehen und zuzuhören, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten, zu filtern, was aufgeschrieben werden muss und was nicht, das Gefilterte aufzuschreiben und gleichzeitig dem weiteren Redefluss des Sprechers volle Aufmerksamkeit zu schenken. Leichte Übung für Sie? Respekt und herzlichen Glückwunsch. Mein Kleinhirn pfeift bei einer derartigen Gehirnakrobatik "La Paloma" aus dem allerletzten Loch.
Es macht übrigens keinen Unterschied, ob dem Angeklagten Schwarzfahren, Kaufhausdiebstahl, Vergewaltigung oder Mord vorgeworfen wird. Auch die Verfahrensdauer spielt dabei keine Rolle. Selbst in mehrjährigen Strafprozessen existiert nicht eine einzige objektive Aufzeichnung dessen, was im Prozess ausgesagt wurde. Unvorstellbar, unglaublich, beschämend? Was sagen Sie, Bananenrepublik? Jetzt werden Sie aber komisch. Haben Sie was gegen Traditionen? Oder sind Sie Anarchist?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin nicht einmal in der Lage, freitags zu sagen, was ich am Dienstag zu Mittag gegessen habe. Oder auf der Rückfahrt von einer Feier mich zu erinnern, welche Farbe der Pullover des ältesten Partygastes gehabt hat. Ich wäre sicher ein mäßiger Zeuge, eher so in Richtung Knallzeuge (Knallzeugen beschreibe ich auf Seite 138 meines Buches.).
Sorry, liebe Richter, aber für ähnlich unzuverlässig halte ich eure Notizen, die ihr während einer Strafverhandlung dahinkritzelt. Der Jurist ist Erbsenzähler + Korinthenkacker, und er legt sogar Wert darauf. Vollkommen zu Recht übrigens. Nicht selten kommt es bei Zeugenaussagen auf ein einziges Wort an, auf seine Stellung im Satz oder auf seine Betonung: Umfahren und umfahren sind zwei vollkommen unterschiedliche Wörter, je nachdem, welche Silbe man betont. Auch das Verhalten von Zeugen, ihr Schwitzen, ausweichende Blicke, errötende Gesichter, Widersprüche und stammelnde Wortfetzen sind immer nur Momentaufnahmen im Richterhirn. Ist es nicht borniert, zu glauben, wir könnten uns an derartige Feinheiten auch nach Tagen, Wochen, Monaten oder sogar Jahren erinnern? Ja, sage ich, es ist borniert, unvorstellbar, beschämend. Und nicht einer Bananenrepublik, aber eines Rechtsstaates unwürdig. Gerade deshalb muss es sich ändern. Bitte schleunigst.
PS: Die Anregung hierzu gab mir ein Artikel von Dr. Frank Bräutigam in der „Deutsche Richterzeitung“ Ausgabe September 2018. Der Artikel findet meine volle Zustimmung und erinnert mich an meine Anfänge als Anwalt. Vor 30 Jahren war ich gelegentlich auch in kleineren Strafverfahren tätig. Bereits damals habe ich mich gewundert, warum nichts protokolliert wird. Die Antwort der Strafrichter: „Das sieht die Strafprozessordnung nicht vor“. Nur ab und zu (vermutlich bei Richtern mit ähnlichen Minigehirnen wie dem meinen) saß dort eine Protokollführerin und schrieb mit. Aber nicht etwa das, was der Richter ihr diktierte. Auf meine Frage, was sie denn mitschreibe, erhielt ich zur Antwort: „Das, was der Zeuge aussagt.“ Auf meine Frage, ob sie denn alles ausnahmslos mitschreibe, antwortete sie: „Nein, nur das, was ich mitbekomme“. Prost Mahlzeit, dachte ich mir. Denke ich übrigens heute noch.
Filmtipp:
Kein Sterbenswort von Guillome Canet
Nach dem Spaziergang bin ich traditionell müde
© an Text und Bild: Detlef Wendt