05. KW 2019
Morgens beim Frühstück berichtete ein Radiomoderator von Gaffern in Pforzheim. Bei einem Unfall auf der A 8 habe es einen Toten und einen Verletzten gegeben. Gaffer hätten angehalten, seien ausgestiegen und hätten Fotos und Videoaufnahmen vom Todesopfer gemacht. Dann hätten sie sich auf die Suche nach dem Verletzten begeben. Der sei bereits im Rettungswagen behandelt worden. Um auch den Verletzten zu sehen, zu fotografieren oder aufzunehmen, hätten Gaffer ...
möglicherweise die Tür des Rettungswagens geöffnet, zumindest aber versucht, einen Blick durch die zeitweise geöffnete Tür zu werfen.
Meine Frau war sprachlos. Und hatte gleich ein probates Mittel gegen diese Leute zur Hand: 5 Jahre Gefängnis. Alternativ solle man den Angehörigen des Opfers und des Verletzten Knüppel in die Hand drücken und sie 5 Minuten mit den Gaffern alleine lassen.
Man muss meiner Frau diesen Ausfall nachsehen. Sie ist gläubig und hat daher ein vereinfachtes Weltbild. Ansonsten herzensgut, schlägt sie in solchen Situationen gedanklich schon einmal über die Stränge. Wobei „Strenge“ hier vielleicht besser gepasst hätte.
Als Agnostiker betrachte ich den Vorgang wesentlich differenzierter. Bevor ich urteile, betrachte ich die Angelegenheit unter verschiedenen Blickwinkeln, untersuche alle möglichen Aspekte, stelle Fragen und gebe Antworten:
1. Warum hat der Gaffer das getan? Ist es nicht denkbar, dass er Medizinstudent war und dies als günstige Gelegenheit der eigenen Fort- und Weiterbildung angesehen hat? Oder lediglich überprüfen wollte, ob Sanitäter und Notarzt den Verletzten korrekt behandeln. Wie oft liest man von Sanitätern, die ihre Patienten hinterrücks um die Ecke bringen? Eben, nicht umsonst steckt in jedem Sani auch ein Täter. Ebenfalls nicht auszuschließen ist, dass er ein arbeitsloser ehemaliger Kriegsberichterstatter war, der in wehmütiger Erinnerung an seinen alten Job endlich einmal wieder Leichen oder Menschen mit abgetrennten Gliedmaßen sehen wollte. In Betracht ziehen muss man auch, dass der Gaffer sich nur ein paar Anregungen holen wollte, welche Körperstellen sich für seine nächste Prügelattacke gegenüber Ehefrau und Kindern besonders gut eignen. Möglicherweise wollte er sich auch nur an den Anblick von frischem Blut gewöhnen, um nach dem für den darauffolgenden Tag vorgesehenen Mord an seinem Nachbarn nicht aus den Latschen zu kippen.
2. Stand der Gaffer unter Drogen? Sollte das der Fall gewesen sein, wusste er wahrscheinlich gar nicht, was er tat. Dann kann man ihn allenfalls wegen Trunkenheit am Steuer belangen, falls er nicht nur Beifahrer war.
3. Ist das Fotografieren für ihn eine Sucht? Wie Fresssucht, Magersucht, Sammelsucht, Sexsucht oder Spielsucht? Dann ist der Gaffer krank und muss zur Therapie. Hier bietet sich ein Praktikum bei der Nachtstreife in der mexikanischen Stadt Los Cabos an. Oder in Frankfurt, wenn die Krankenkasse keine Auslandskuren übernimmt.
4. Job verloren, Frau fremd gegangen, letzte Folge vom Dschungelcamp verpasst? Hier muss man den Gaffer nach seinen Prioritäten fragen. Welches der drei Einschnitte empfand er als besonders belastend? Wenn er sagt, meine Frau kann vernaschen, wen sie will, aber Dschungelcamp verpassen geht gar nicht, darf das nicht unberücksichtigt bleiben.
5. Hatte der Gaffer eine miserable Kindheit? Dann scheint alles andere eh unwichtig.
Sie merken, eine differenzierte Sichtweise kann die Tat in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen. Und der Gaffer ist nicht mehr nur Gaffer, sondern Späher, Überwacher, Inspizient, Kontrolleur, Aufpasser und Achtgeber. Und dann sagen wir erleichtert: Gut, geliebte Gaffer, dass wir euch haben.
Nach meiner Kenntnis liegt dem Bundestag seit 2016 ein von den Ländern Niedersachsen und Berlin initiierter Gesetzesentwurf zur Verschärfung der bestehenden Gesetze gegen Gaffer vor (Bundestags-Drucksache:18/9327). Besonders die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza hat sich dafür stark gemacht. Worauf man noch wartet? Keine Ahnung, vielleicht darauf, dass Gaffer die Schranktür, hinter der dieser Entwurf vor sich hinvegetiert, öffnen, ihn fotografieren und ins Netz stellen? Falls ja: Geht, getreue Gaffer, gutes Gelingen!
Mit Fotos musste sich kürzlich auch der europäische Gerichtshof beschäftigen:
Ein Berufsfotograf macht ein Foto. Das verkauft er an ein Reiseportal, welches das Foto auf seiner Webseite einstellt. Eine Schülerin aus NRW erstellt ein Referat. Sie illustriert es mit besagtem Foto. Die Lehrer finden das Referat so toll, dass sie es am 25.03.2009 auf der Webseite der Schule veröffentlichen. Das kriegt der Fotograf spitz. Er verklagt die Schule auf Unterlassung und Zahlung eines Honorars. In Deutschland geht das Verfahren durch drei Instanzen, Landgericht Hamburg, Oberlandesgericht Hamburg und Bundesgerichtshof. Die Bundesrichter raufen sich die Haare, finden aber keine zufriedenstellende Lösung. Sie bitten den europäischen Gerichtshof um Hilfe. Die fünf Richter in Luxemburg kennen sich mit Fotos und Internet blendend aus und sagen nach knapp 10 Jahren am 07.08.2018: Wenn sich auf einer Webseite ein Foto befindet, das von einem Nutzer anschließend auf einer anderen Webseite eingestellt wird, eröffnet man dieses Foto einem neuen Publikum. Das darf man nur mit vorheriger Erlaubnis des Fotografen.
Hatte im Ergebnis übrigens auch schon das Landgericht Hamburg so gesehen. Aber sicher ist sicher. Mitgezählt? 16 Richter, einschließlich Luxemburg. Muss ein sehr schönes Foto gewesen sein.
Für Interessierte:
EuGH 07.08.2018 – C-161/17
Musiktipp:
Look at yourself von Uriah Heep
Vollgesogene Zecke, nach dem Unfall
© an Bild und Text: Detlef Wendt