Der 40. Wendt der Woche: Freie Fahrt - Mit Foto + Musiktipp

10. KW 2019

 

Eine Menge Leute sind gegen ein Tempolimit. Begründet wird das gerne mit der Freiheit. Einer der prominentesten Gegner ist ein Journalist, derzeit Chefredakteur. Es sei nicht einzusehen, dass man verantwortungsbewussten Autofahrern, die Freude am schnellen Fahren hätten, das letzte Bisschen deutscher Freiheit nehmen wolle, so im Kern wohl die Interpretation seine Aussage.

 

„Genau“, möchte man rufen, immerhin ist der Mann ein Intellektueller. Wer dieser Spezies applaudiert, nimmt für sich in Anspruch, wenn nicht schon selbst einer von ihnen zu sein, so doch zumindest seinen Gedanken folgen zu können. In Zeiten wie diesen ist das fast schon ein Ritterschlag. Und mal ehrlich, so von Raser zu Raser, recht hat er. Sollen doch die verantwortungsbewussten Autofahrer fahren, so schnell sie wollen. Das ist überhaupt nicht schlimm. Es passiert niemandem etwas. Versprochen.

 

Gefährlich ist nur die verschwindend geringe Menge der Verantwortungslosen.  Aber die sind zum Glück blitzschnell ausgemacht. Das sind nämlich diejenigen, bei denen sich bereits beim Einsteigen weißer Schaum vor dem Mund bildet. Mit intelligenten Sensoren ausgestattete Autos identifizieren diese Fahrer als verantwortungslos und legen sofort den Anlasser still. Das ist Technik, die beruhigt.

 

Bei den wenigen noch zugelassenen Fahrzeugen ohne diese Sensoren ermitteln wir die Verantwortungslosen spätestens nach dem ersten Todesfall. Stehen die Sterne günstig, erwischt es nicht den Fahrer, sondern einen ahnungslosen Passanten. Mit etwas Dusel ein kleines Kind oder eine schwangere Frau. Wenn’s richtig gut läuft, sogar einen Fahrradfahrer. Die halten sowieso nur den ganzen Verkehr auf. Läuft’s dagegen mies, erwischt er nur einen alten Sack wie mich.

 

So oder so, wir versorgen dadurch mindestens sieben auf einen Streich: Polizei, Tatortreiniger, Lokalredakteur, Bestatter, Beerdigungskuchenbäcker, Kfz-Mechaniker und Priester oder Trauerredner. Nebenbei schonen wir auch die Familien- oder Rentenkasse, je nachdem, ob ein Kind oder ein alter Sack zu Grabe getragen wird. Freiheit auf den Autobahnen, wer mag es jetzt noch leugnen, trägt also zur Vollbeschäftigung und Sicherung des Staatshaushaltes bei. Der Passant wird anständig beerdigt, und der Fahrer bekommt eine Bewährungsstrafe und wird ermahnt, zukünftig entweder nur noch verantwortungsbewusst schnell oder eben langsam zu fahren. Win-win-Situation nennt man das, glaube ich, heute.

 

Freiheiten also einschränken? Nein, danke. Spaßbremsen haben wir schon genug. 

 

Ich habe übrigens Freude an lauter Musik. Mit meiner Freude gehe ich sehr verantwortungsbewusst um, höre also keinen unerträglichen Lärm wie Hiphop, sondern nur zauberhafte süße Klänge wie Progressive Rock. Wenn’s meinen Nachbarn stört, was soll’s? Er kann ja ausziehen. Vielleicht hat er Freude an Umzügen.

 

Es soll Menschen geben, die haben Freude am Schießen. Die Amerikaner haben mit dieser Freude übrigens sehr gute Erfahrungen gemacht. Warum freuen wir uns nicht auch? Freie Waffen für freie Bürger, zumindest für die Verantwortungsbewussten. Denn bei denen wird niemandem etwas passieren. Versprochen. Die kaum ins Gewicht fallenden verantwortungslosen Waffenbesitzer sind zum Glück blitzschnell ausgemacht. Man erkennt sie meist daran, dass Leichen ihren Weg pflastern.

 

Letztlich ist es durchaus legitim, ein Tempolimit als unangemessen zu empfinden. Atemnot bereiten mir die, die das Freiheitsargument todernst meinen. Ich las einen Leserbrief, der repräsentativ für diese Verwirrten sein dürfte: Jemand schrieb sinngemäß, die Möglichkeit des uneingeschränkten Schnellfahrens auf deutschen Autobahnen sei für ihn noch der einzige Grund, stolz auf dieses Land zu sein. Sie wissen, wie man diesen Leuten zu einem richtigen Gehirn verhelfen kann? Falls nein, lesen Sie den 33. Wendt der Woche, da steht's. 

 

Ein 61-jähriger Autofahrer überschritt zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 29 km/h. Gegen das verhängte einmonatige Fahrverbot setzt er sich gerichtlich zur Wehr. Es stellte sich heraus, dass der Mann nicht aus Freude oder gar Freiheitsliebe so schnell war. Nein, er wollte lediglich verhindern, dass er sich in die Hose macht. Nach einer Prostata-Operation litt er nämlich an Inkontinenz. Während der Fahrt habe er einen starken schmerzhaften Harndrang verspürt, erklärte er dem Richter. Er habe rechts ranfahren wollen, das sei aber auf Grund des dichten Verkehrs nicht möglich gewesen. Also habe er gnadenlos auf die Tube gedrückt, um schneller nach Hause zu kommen und sich dort erleichtern zu können.

 

Mir leuchtet seine Argumentation ein. Was wäre die Alternative gewesen? Nicht nur die Hose, nein, auch der Fahrersitz wären vollkommen versaut gewesen. Wie das gestunken hätte! Dagegen wären gekochte Nierchen die reinsten Duftkerzen. Dann schon lieber ein Passant auf dem Kühlergrill. Das Blut auf dem Lack ist schnell beseitigt. Einmal durch die Waschstraße, fertig. Also ich kann den Mann verstehen.

 

Das OLG Hamm konnte es aus unerfindlichen Gründen nicht. Krankheitsbedingter plötzlicher Harndrang während einer Autofahrt rechtfertige regelmäßig keine Geschwindigkeitsüberschreitung, sagten die Richter. Wahrscheinlich alles Frauen oder junge Männer ohne Prostataprobleme. Wer davon betroffen sei, müsse seine Fahrt eben besser planen und entsprechende Vorkehrungen treffen, sagten sie. Ja, wie denn? Anhänger kaufen und mobiles Klo mitnehmen?

 

Brandaktuelle Meldung heute am 01.03.2019: Der BGH bestätigt ein Urteil des LG Hamburg. Das LG Hamburg hatte einen Raser wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Raser war ohne Fahrerlaubnis und betrunken mit 160 km/h durch die Hamburger Innenstadt gefahren. Als er auf die Gegenfahrbahn fuhr, stieß er frontal mit einem anderen Pkw zusammen. Ein Insasse starb, 2 wurden schwer verletzt. Derartige Taten wird man auch mit einem Tempolimit auf Autobahnen nicht verhindern können. Aber vielleicht mit diesem begrüßenswerten Urteil des Bundesgerichtshofes.

 

Für Interessierte:

OLG Hamm 10.10.2017 - 4 RBs 326/17

BGH 01.03.2019 - 4 StR 345/18

 

Musiktipp:

American Band von Drive-By-Truckers

 

8 WdW - Nischenprodukte

Seit fast 10 Sekunden fährt der Schleicher vor mir auf der linken Spur.

Mit 130 km/h! Solche Geisteskranken müsste man von der Bahn fegen!

 

© am Text: Detlef Wendt 

© am Bild: Madeleine Dox